Gastbeitrag von Ilka Wendlandt
„Geht das überhaupt? Kann man wirklich zu viel Sport treiben?“, fragt sich zwischendurch die Personal Trainerin Ilka Wendlandt immer mal wieder, wenn sie mit sehr ehrgeizigen Sportlern trainiert. Denn schließlich fördert Sport die Gesundheit. Also, ab wann wird Training zur Droge? Welche Persönlichkeitsmerkmale weisen Sportsüchtige auf? Und was hilft gegen eine Sportsucht? In diesem Artikel hat sie für euch die wichtigsten Antworten zusammengetragen – danke dafür, Ilkstar!
Wann bist du sportsüchtig?
Für den Ottonormalverbraucher gibt es in der Regel zwei Gruppen von Menschen: die, die gern Sport treiben und die, die Sport hassen. Aber es gibt noch eine dritte Gruppe: die, die ohne Sport nicht leben können.
Wenn Du Dich fragst, ob Du zu dieser dritten Gruppe gehören könntest, helfen die folgenden Fragen:
- Ordnest du deinem Sport inzwischen alles andere unter?
- Vernachlässigst du deinem Sportpensum zuliebe Familie und Freunde?
- Trainierst du „heimlich“, um Kritik aus deinem Umfeld zu entgehen?
- Trainierst du täglich mehrere Stunden obwohl Sport nur Hobby ist?
- Ignorierst du Verletzungen und trainierst trotz Schmerzen weiter?
- Ziehst du auch bei Krankheit dein Training durch?
- Bist du launisch und reizbar, wenn du ein Training ausfallen lassen musst?
- Magst du Applaus und Anerkennung als Lohn dafür, dass du dich so abrackerst?
- Machst du Sport, um dich abzulenken oder weil es in anderen Bereichen deines Lebens nicht so funktioniert?
Wenn du wenigstens sieben dieser Fragen mit JA beantwortet hast, dann würden dich Wissenschaftler bereits klar als „sportsüchtig“ einstufen.
Aber Achtung: Nicht jeder, der ein hohes Bedürfnis nach Sport und intensivem Training hat, ist deswegen abhängig vom Sport. Denn nach Expertenschätzungen sind lediglich ein bis drei Prozent der Freizeitsportler süchtig nach Bewegung. Sportsucht ist also kein Massenphänomen. Wenn du regelmäßig und leidenschaftlich Sport betreibst, hast du daher sehr wahrscheinlich lediglich eine hohe Selbstverpflichtung bzw. Bindung an den Sport.
Bei einer Sportsucht steht nicht mehr nur die Freude an der Bewegung im Mittelpunkt, sondern häufig wird zwanghaft nach einer stetigen Sportdosis verlangt, um sich wohlzufühlen. Du giltst als sportsüchtig, wenn du deinen Sport so exzessiv betreibst, dabei alles andere zweitrangig wird und du selbst bei Krankheit, Schmerzen oder Verletzungen weiter trainierst.
Ich kann als Personal Trainerin aus eigener Erfahrung sprechen, dass die Grenze zur Sportsucht sehr vage und für Familie und Freunde oft nicht genau erkennbar ist. Als ich mich vor Jahren auf meinen ersten Halb-Ironman vorbereitete, glaubten meine Eltern, ich sei sportsüchtig. Kein Wunder! Denn ich trainierte an sechs Tagen pro Woche und insgesamt standen wöchentlich neun Trainingseinheiten auf dem Plan. Da kamen zwölf bis 15 Stunden Sport pro Woche zusammen. Aber wenn man in drei Disziplinen trainiert, um eine Halb-Ironman-Distanz zu absolvieren und dabei auch noch möglichst Spaß zu haben, dann ist das Trainingspensum nun einmal hoch. Entscheidend dabei ist, dass das Training auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt hoch ist und nicht permanent auf diesem Niveau Sport getrieben wird.
Grundsätzlich ist wissenschaftlich auch noch nicht eindeutig belegt, wie es zu einer Sportsucht kommt. Aktuelle Untersuchungen gehen allerdings von folgenden Mechanismen aus:
Gewöhnung
Vielleicht kommt dir das Gefühl sogar selbst bekannt vor: eigentlich hast du gar keine Lust auf Sport, aber nachdem du dein Training doch durchgezogen hast, stellt sich ein Glücksgefühl ein. Diese freigesetzten Endorphine befeuern dein Belohnungssystem im Gehirn. Das Problem: Nach einer Weile reicht diese Endorphindosis nicht mehr aus. Dein Gehirn will mehr von dem Stoff… Wie ein Drogensüchtiger musst du nun von Mal zu Mal deine Dosis erhöhen, um das Hochgefühl erneut zu erleben.
Lebenseinstellungen und Persönlichkeitsmerkmale
Um zu beurteilen, ob eine Sportsucht oder zumindest einen Hang dazu bereits vorliegt, solltest du nicht nur dein Trainingspensum hinterfragen, sondern vielmehr deine grundsätzliche Haltung zum Leben (ich weiss, ein sehr anspruchsvolles Thema), zum Sport sowie zur Ernährung im Besonderen.
Deutsche Forscher fanden zwar nach einer Online-Umfrage in der Allgemeinbevölkerung einen Zusammenhang zwischen dem Zwang, sich gesund zu ernähren und dem Zwang, Sport zu treiben. Jedoch war dieser geringer, als eingangs vermutet. Gewissenhaftigkeit und Perfektionismus als ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale erhöhen das Risiko für eine Sportsucht, so die Ergebnisse aus der oben genannten Untersuchung. Männer zeigen zudem eine höhere Extravertiertheit, wenn sie zur Sportsucht neigen. Als Frau hingegen liegt häufig ein sogenannter Neurotizismus vor, auch als emotionale Labilität bezeichnet, wenn sie zur Sportabhängigkiet neigen.
Streben nach einem perfekten Körper
Ein weiteres mögliches Motiv der Sportsucht ist das Streben nach einem perfekten Körper. Oft tritt Sportsucht als Begleiterscheinung einer Essstörung wie Magersucht oder Bulimie auf. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass sich durch das zwanghafte Streben nach dem perfekten Körper oder einem möglichst geringen Wettkampfgewicht eine spezielle Form der Magersucht entwickelt: die sogenannte Anorexia athletica. Aufgenommene Kalorien, die als zu viel und belastend empfunden werden, müssen direkt wieder abtrainiert werden.
Ein deutsches Forscherteam verglich die Stimmung und das Denken von Patient*innen mit Essstörungen (überwiegend Bulimie und Magersucht), um Schlüsse auf eine Sportsucht ziehen zu können. Erwartungsgemäß war diese Personengruppe im Schnitt angespannter, unzufriedener mit dem eigenen Körper und hatten einen größeren Drang, dünn zu sein. Außerdem waren sie weniger energiegeladen und ihre Stimmung war schlechter. Sport setzten sie gezielt ein, um ihre Stimmung und negative, mit der Essstörung zusammenhängende Gedanken zu kontrollieren. Durch das bei Menschen mit Essstörungen rasche Abklingen dieses positiven Effekts wird jedoch ein Teufelskreis ausgelöst: Immer häufiger oder intensiver wird Sport getrieben, um (kurzfristig) Zufriedenheit zu erlangen.
Realitätsflucht
Realitätsflucht wird ebenso als Motiv für Sportsucht diskutiert. Sport hilft häufig, den Alltag zu vergessen. Große körperliche Belastungen verlangen schließlich die volle Konzentration auf das Hier und Jetzt und lassen den Alltagsfrust weit in den Hintergrund treten. Dieses scheinbare Nichtvorhandensein mit den Alltagsproblemen ist ein Zustand, den es immer wieder zu erstreben gilt.
Mangelndes Selbstwertgefühl
Auch spielt generell ein mangelndes Selbstwertgefühl eine Rolle. Frust oder Misserfolge wird durch Sport und die damit einhergehenden Erfolge kompensiert. Die körperliche Erschöpfung ist erstrebenswert und zählt als Erfolgserlebnis. Das steigert folglich das Selbstbewusstsein. Außerdem mindert es Ängste und Unsicherheiten – solange das Leistungsniveau oben bleibt.
Leistungsgedanke
Leistung hat in unserem Gesellschaftssystem einen hohen Stellenwert und ist somit positiv konnotiert. Wer im Sport Leistungen erbringt, die für die breite Masse eher unvorstellbar sind, wird bewundert, dient als Vorbild und wird auf einen Sockel gestellt. Wer viel leistet, ist anerkannt.
Was hilft gegen Sportsucht?
Ob Männer und Frauen unterschiedliche Strategien gegen die Sportsucht benötigen, bleibt noch zu erforschen. Generell können die folgenden Methoden bei einer echten Sportsucht helfen:
Sei ehrlich und höre auf deinen Körper
Hast du den Großteil der Fragen unter Punkt 1 mit JA beantwortet? Gut! Denn das zeigt, dass du sehr ehrlich warst und die Erkenntnis ist der erste Schritt. Nur so kannst du deine Sportsucht lösen.
Lass die negativen Gefühle zu
Wenn du keinen Sport treiben kannst, fühlst du dich vermutlich leer und frustriert. Wahrscheinlich geht es dir mies, weil du deinen Trainingsplan nicht einhalten kannst und Leistungseinbußen befürchtest. Wir Menschen tendieren dazu, negative Gefühle und Gedanken wegzudrücken oder sie sofort lösen zu wollen. Das setzt uns unter zusätzlichen Stress. Besser ist es, wenn du lernst, diese Gefühle anzunehmen und zu akzeptieren- das ist schwer, erfordert wie der Sport selbst viel Disziplin und basiert auf einem langfristigenProzess. Gib dir daher viel Zeit dafür.
Im Englischen gibt es den Begriff „embrace“ – umarmen. Indem du Gefühle so zulässt, wie sie sind, nimmst du den Druck aus der Situation und wirst schnell merken, dass es okay ist, leer, traurig, verzweifelt oder schwach zu sein.
Verhaltenstherapie
Mithilfe eines Therapeut*in wird ein Trainingsplan angelegt und gemeinsam „überwacht“. Anders als beispielsweise bei einem Alkoholsüchtigen wird hier das Pensum aber nicht auf null heruntergefahren – keine Angst. Als Betroffene*r sollest du dich weiterhin bewegen, denn Sport ist ja schließlich grundsätzlich gesund. Ziel ist es jedoch, deinen Trainingsumfang auf ein gesundes Maß zu bringen.
Entspannung
Ebenso kann es dir helfen, verschiedene Entspannungstechniken zu erlernen. Mit Meditation, autogenem Training oder Atemübungen kannst du einer aufkommenden Unruhe oder Ängsten etwas entgegensetzen.
Sprich die Sucht offen an
Was, wenn du quasi auf der anderen Seite stehst und in deiner Familie oder im Freundeskreis jemanden hast, bei dem du eine Sportsucht vermutest? Dann sprich denjenigen in einem guten Moment ruhig offen darauf an. Finde die Gründe für das aus deiner Sicht übermäßig viele Trainieren heraus. Verhärtet sich dein Verdacht einer Sportsucht, dann versuche diese Person zu überzeugen, sich zu reflektieren und professionelle Hilfe zu suchen. Biete deine Hilfe und Unterstützung an, beispielsweise indem du sie zu einer Therapie begleitest.
Ich betone aber an dieser Stelle nochmals, dass nicht jeder, der ein hohes Trainingspensum hat, automatisch sportsüchtig ist. Du solltest daher eine pauschale Beurteilung meiden, aber ehrlich interessiert nachfragen und zuhören.
Fazit
Also noch einmal zum Schluss: Sportsucht ist kein Massenphänomen. Auch genügt nicht einfach ein Blick auf den Trainingsumfang, um als sportsüchtig eingestuft zu werden. Vielmehr entscheidet die Lebenseinstellung, Persönlichkeitsmerkmale und der Umgang mit gesellschaftlichen Zwängen und Vorbildern darüber, ob das Gefühl entsteht, ohne Sport nicht mehr leben zu können.
Was bei der Bewältigung einer Sportsucht am effektivsten hilft, kann leider wie bei anderen Suchterscheinungen auch, nicht pauschal beantwortet werden. Doch eines ist für alle Betroffenen gleich: die Einsicht, dass zu viel Training vorliegt und alles dem Sport untergeordnet wird, ist der erste Schritt hin zu einer Lösung des Problems.
Über Ilka
Ilka Wendlandt war immer schon absolut sportbegeistert – und diese Begeisterung nahm bis heute nie ab. Sie ist Altersklasse-Triathletin und arbeitet aus Leidenschaft als Personal Trainerin. Sie hilft Führungskräften und Unternehmern, durch Sport und mentales Training einen Ausgleich in ihr hektisches Leben zu bringen und macht sie dadurch leistungsstark, erfolgreich, resilienter, stressfreier und rundum glücklicher.
Hier geht’s zu Ilkas Webseite.